
20. November 2019
Digitale Robotik — auch bekannt als Robotic Process Automation (RPA) — ist eine neue Technologie mit dem Potenzial, die Produktivität der Geschäftsprozesse radikal zu steigern, indem repetitive manuelle Arbeiten und Medienbrüche vermieden werden. Gleichzeitig verbessert sie die Datenqualität, da die Prozesse konsistenter ablaufen als bisher.
Laut RPA-Softwareanbietern ist digitale Robotik die neue Wunderlösung für Prozessautomatisierung, die nachhaltigen Mehrwert generieren und einen schnellen Return on Investment bieten kann. Aber hält sie diese Versprechen wirklich ein?
Es ist nicht Schwarz-Weiss
Wir wollen die Top-5-Behauptungen etwas genauer untersuchen. In unserer Analyse haben wir Online-Dokumentationen und Reviews studiert, mehrere RPA-Tools mit einfachen Workflows getestet und einige reale Geschäftsprozesse mit einem führenden Tool implementiert. Dabei haben wir die Erkenntnisse laufend mit unserer jahrzehntelangen Erfahrung in der IT-Branche verglichen.
1. Digitale Roboter können schnell implementiert werden
Richtig: mit ein wenig Übung kann man automatisierte Prozesse recht schnell zusammensetzen. Innerhalb weniger Tage können auch Geschäftsprozesse mittlerer Komplexität — wie z.B. ein Rechnungserstellungsprozess — implementiert werden. Dies ist bemerkenswert, insbesondere wenn man dies mit der typischen Dauer und den Kosten traditioneller IT-Automatisierungsprojekte vergleicht, bei denen Geschäftsanwendungen mit diversen Schnittstellen gebaut und integriert werden müssen.
2. Digitale Roboter sind kostengünstig
Teilweise richtig: wie bereits erwähnt, erfolgt die Erstellung eines digitalen Roboters relativ schnell und damit kostengünstig. Die Version 1.0 ist jedoch nur der Anfang im Lebenszyklus eines Roboters. Mit der Zeit wird sich seine Ausführungsumgebung ändern — und auch der Roboter muss entsprechend angepasst werden. Selbst kleine Änderungen in der Software-Infrastruktur (z.B. ein Microsoft Office-Update) oder eine geänderte Eingabedatei können einen digitalen Roboter nutzlos machen. Daher ist die kontinuierliche Wartung und Anpassung von Robotern eine unvermeidliche Tätigkeit und kann mit der Zeit kostspielig werden.
Natürlich könnte der Roboter so konstruiert sein, dass er widerstandsfähig gegen Änderungen in seiner Ausführungsumgebung ist - genauso wie Enterprise-Software fehlertolerant sein sollte. Die Kosten für den Bau des Roboters würden jedoch erheblich steigen, da er mit den unterschiedlichsten Eingaben zurechtkommen müsste. Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit fordern hier ihren Tribut.
3. Der Bau von digitalen Robotern erfordert keine Programmierkenntnisse
Teilweise richtig: RPA-Anbieter richten sich an Fachabteilungen mit dem Versprechen, dass digitale Roboter ohne Programmierkenntnisse gebaut werden können. Um diese Behauptung zu erfüllen, stellen sie einfach zu bedienende Tools wie Drag & Drop-Designer und Prozessrekorder zur Verfügung. Diese modernen grafischen Benutzeroberflächen (GUIs) vereinfachen zwar das Roboterdesign, sie ersparen es jedoch nicht, grundlegende Programmierkonzepte zu verstehen. So lässt sich beispielsweise der Umgang mit Sequenzen, Schleifen, Parametern und Variablen nicht vermeiden.
"Die Recording-Tools des Produkts können aber schon ohne eigentliche Programmierkenntnisse verwendet werden, oder?" - könnten Sie fragen.
Nun, diese Recording-Tools sind leider bei weitem nicht perfekt. Tatsächlich ist die Ermittlung der eigentlichen Absicht hinter einer Mausbewegung oder einem Klick ist eine Herausforderung. Einige Prozessrekorder interpretieren den Ablauf der Benutzeraktionen falsch und das generierte Skript muss anschliessend manuell korrigiert werden. Andere generieren Automatisierungsskripte, die bereits dann fehlschlagen, wenn sich die Fensterposition gegenüber der Aufzeichnung leicht verändert hat — was eine manuelle Neuimplementierung erforderlich macht. In beiden Fällen sind grundlegende Programmierkenntnisse unerlässlich, um einen Erfolg zu erzielen.
4. Mit digitalen Robotern kann alles automatisiert werden
Nicht wirklich: es ist ein wiederkehrendes Muster in der Kommunikation der Softwarehersteller, ihr Produkt als die Lösung für alle Automatisierungsprobleme zu positionieren. Die Realität ist jedoch komplexer. Digitale Roboter können schnell eingesetzt werden, um einfache Prozesse zu automatisieren oder Medienbrüche zu überbrücken — sie reagieren aber empfindlich auf Umgebungsänderungen.
Komplexe Prozesse stellen oft eine Herausforderung für RPA-Lösungen dar, die diese nicht bewältigen können. Typischerweise können Prozesse mit einer höheren Vielfalt an Eingaben und alternativen Abläufen, mit asynchroner Verarbeitung und potenziell unerwarteten Ereignissen oder mit einer komplexen IT-Umgebung einen digitalen Roboter schnell überfordern. Nicht zuletzt haben wir Probleme mit Webanwendungen gesehen, bei denen Roboter Schwierigkeiten haben, dynamisch generierte HTML-Seitenelemente wiederholt und zuverlässig zu identifizieren. Die digitale Robotik hat also definitiv ihre Grenzen.
5. Die digitale Robotik verfügt über intelligente Funktionen zur Automatisierung menschlicher Entscheidungen
Nicht wirklich: RPA wird zur Automatisierung repetitiver manueller Tätigkeiten eingesetzt, wodurch letztlich wertvolle Kapazität von Business-Experten freigesetzt wird. Digitale Roboter folgen im Betrieb strikten Anweisungen und Regeln — das kann man nicht als intelligent bezeichnen. Jedes unvorhergesehene Ereignis (z.B. nicht dem Schema entsprechende Eingaben, nicht reagierende Systeme usw.) führt dazu, dass der digitale Roboter anhält und um menschliche Hilfe bittet. Änderungen in der Umgebung können ebenfalls verhindern, dass die Roboter ihre Aufgaben erledigen. In diesen Fällen ist menschliches Eingreifen erforderlich.
Um die Anzahl solcher Ereignisse zu verringern, verwenden einige RPA-Lösungen fortschrittliche Werkzeuge wie Machine Learning basierte Bilderkennung oder Natural Language Processing zur Interpretation mehrdeutiger Eingaben. Die Effektivität solcher Instrumente hängt stark vom Anwendungsfall und den Referenzdaten (oder Trainingsdaten) ab, mit denen die zugrundeliegenden Algorithmen trainiert werden. Aber selbst im besten Fall können unerwartete Ereignisse nicht vollständig ausgeschlossen werden. Nehmen wir das einfache Beispiel eines "intelligenten" Roboters zur Klassifizierung von Kunden-E-Mails: in diesem Fall untersucht der Roboter jede eingehende E-Mail und versucht, sie basierend auf seinem Trainingsset aus historischen E-Mails und Klassifizierungsentscheidungen einer Kategorie zuzuordnen. Dies wird ziemlich gut funktionieren, solange die eingehenden Mails grosse Ähnlichkeiten mit dem Trainingsset aufweisen. Neuartige Inputs können aber schnell in einer falschen Kategorie landen oder unklassifiziert bleiben.
Machine Learning macht Roboter nicht intelligent: es ist nur eine ausgeklügelte und sehr komplexe Art, Eingabedaten zu interpretieren und Prozessentscheidungen zu treffen. Digitale Roboter benötigen im täglichen Betrieb nach wie vor menschliche Überwachung und Unterstützung.
Wie digitale Robotik Nutzen stiften kann
Die digitale Robotik bietet einige interessante Vorteile, ist aber nicht die universelle Lösung für Automatisierungsanforderungen. Es muss gut durchdacht werden, was mit RPA automatisiert und was mit anderen Ansätzen (z.B. traditionelle Applikationsentwicklung) angegangen werden soll. Prozesse mit geringer Häufigkeit von IT-bezogenen Änderungen sind ideale Kandidaten für die Automatisierung mit digitaler Robotik, da langfristige Wartungskosten die Effizienzgewinne nicht übertreffen. Gleiches gilt für einmalige Datenmigrationen, da in diesen Fällen die kurzfristige Wertschöpfung sehr hoch und die erwartete Roboterlebensdauer kurz ist. Die Automatisierung von Prozessen in ständig ändernden IT-Umgebungen erfordert hingegen robustere und fehlertolerantere Tools, um den erhofften Business-Nutzen zu erzielen.
Digitale Robotik ist kein Wundermittel: sie ist ein wertvolles Werkzeug in einem grösseren Werkzeugkasten. Für jede Automatisierungsanforderung sollte im Unternehmen bewertet werden, welches Tool das effektivste und effizienteste ist, um sie umzusetzen. In einigen Fällen wird sich RPA als die beste Wahl erweisen - in anderen wird RPA keine nachhaltige und wirtschaftliche Lösung bieten. Wie können wir uns auf anstehende Automatisierungsanforderungen optimal vorbereiten? Ein guter Ansatz besteht darin, ein Technologieinventar (Werkzeugkasten) und einen Entscheidungsleitfaden zu definieren, um den Prozess der Technologieauswahl zu vereinfachen und zu beschleunigen. Falls Sie Ihrer Toolbox digitale Robotik hinzufügen möchten, probieren Sie es aus und führen Sie ein paar Proof-of-Concept Projekte durch. Viel Spass!